
Heute vor 80 Jahren hat um 9.20 Uhr die Explosion eines Munitionswaggons auf dem Sarstdter Bahnhof 33 Menschenleben gefordert. Bürgermeisterin Heike Brennecke hat heute am Gedenkstein auf dem Bahnhofsvorplatz der Opfer gedacht, legte mit Stadtmanagerin Andrea Satli 32 Blumen an den Gedenkstein und rief 28 Namen der Opfer auf, vier Opfer sind unbekannt. Für den damals umgekommenen Werner Becker legte sein Urenkel Paul Eickhoff eine Blume nieder. Er war mit seiner Großmutter – Tochter von Werner Becker – und seinem Vater – Enkel von Werner Becker – zur Feierstunde gekommen.
„Wir gedenken der Eisenbahner Karl Bornemann, Hermann Schwerdtfeger und August Knoke. Die drei Männer haben heute vor 80 Jahren dafür gesorgt, dass die Munitionszüge, die in Folge des Krieges hier unterwegs oder abgestellt waren, nicht noch größeres Unglück angerichtet haben. An diesem Tag sind 33 Menschen gestorben, es gab ungezählte Verletzte und Schäden in Millionenhöhe an Gebäuden. Das konnten die drei Mutigen nicht verhindern. Aber sie haben Schlimmeres von unserer Stadt und ihren Bewohnern abgewendet. Dafür gebührt ihnen unser Dank. Auch heute, 80 Jahre danach. Das Gedenken an die mutigen Männer und das Gedenken an die Opfer des 16. Juni 1945, ist auch ein Aufruf für Frieden, sagte unter anderem Heike Brennecke.
Es war um 9.20 Uhr am Sonnabend, 16. Juni 1945, als eine gewaltige Explosion die Mauern der Häuser in Giebelstieg erbeben ließ. Wenige Minuten später folgte die zweite, noch stärkere Explosion, und eine hohe Feuersäule stieg hinter den Häusern der Schillerstraße und Goethestraße in den Himmel. Fast gleichzeitig wirbelten riesige Eisenteile von Kesselwagen, ganze Wagenräder und andere Eisenbahnteile durch die Luft, landeten an Hausmauern, in den Straßen und weit in der Feldmark. Fensterscheiben gingen weit und breit zu Bruch und die Bevölkerung geriet in Panik und Angst. Was war geschehen? An diesem 16. Juni 1945 explodierte beim Einfahren in den Sarstedter Bahnhof auf Gleis 2 der Munitionswaggon einer Tenderlok aus Hildesheim. Die Tenderlok der Baureihe 86 107 fuhr an diesem frühen Vormittag aus dem Bahnhof in Hildesheim quasi in ihr Unglück hinein. Die Güterzuglok hatte einen mit Munition beladenen gedeckten Güterwaggon angekoppelt und führte zudem einen Gepäckwagen mit. Lokführer und Heizer sollten Ersatzteile aus Hannover-Leinhausen holen. Eine Gruppe von Fahrgästen, die seit längerem in Hildesheim festsaß, fuhr im Gepäckwagen nach Hannover mit, von wo man sich einen besseren Anschluss erhoffte. Die meisten der männlichen Fahrgäste, ob einzeln reisend oder mit der Familie, standen im Dienst der Reichsbahn und waren während des Krieges von Berufs wegen in den Sudetengau abkommandiert worden. Jetzt befanden sie sich auf dem Heimweg. Dankbar und froh über die Mitfahrgelegenheit in dem improvisierten Zug machten es sich die 26 Personen in dem Waggon bequem, während ihr Zug in Richtung Sarstedt rollte.
Völlig arglos gegenüber den Geschehnissen, die sich wenig später für ein ganzes Leben einprägen sollten, rollten Lokführer Karl Bornemann und Heizer Hermann Schwerdtfeger gegen neun Uhr auf ihrer Lok G 81 mit angehängtem Waggon in Rückwärtsfahrt von Nordstemmen nach Sarstedt, um dort eine Arbeitskolonne abzusetzen. Die Zeiger der Bahnhofsuhr rückten auf 9.15 Uhr, als Lokführer Bornemann und Heizer Schwerdtfeger ihre Mission beendet hatten. Ehe sie wieder auf das Hauptgleis kamen, schickte sie der Fahrdienstleiter auf Warteposition kurz vor dem Bahnhofstellwerk, da, so wurde signalisiert, erst noch ein außerplanmäßiger Zug aus Hildesheim durch kommen würde. Es war dann gegen 9.20 Uhr, als die Lok mit zwei Waggons am Bahnübergang in Giebelstieg vorbeiratterte. In diesem Augenblick brach die Hölle los.
Die Druckwelle einer ungeheuren Explosion presst den Schrankenwärter Alfred Rösener sen. nach vorne über die Kurbelanlage und raubt ihm den Atem. Was er sieht, ist grauenhaft: Die tonnenschwere Dampflok ist aus den Schienen gehoben und liegt schräg auf dem Hauptgleis 2. Von den Menschen im Zug hat keiner überlebt. Die Leichen liegen stark verstümmelt zwischen den Trümmern des Zuges und des verbogenen und aufgerissenen Bahnkörpers. In Giebelstieg und im nahen Bahnhofsbereich liefen schreiende Menschen aus den Häusern, sie sind wie betäubt, bevor sie begreifen, was passiert ist. In der Voss-Straße wird die Hausfrau Wilhelmine Hartmann von einem Sprenggeschoss tödlich getroffen. Marie Senft, die vor ihrem Haus Auf der Kassebeerenworth stand und nach den Kindern sehen wollte, wurde von einem umherfliegenden Eisenstück derart getroffen, dass sie schwer verletzt in ein Hildesheimer Krankenhaus eingeliefert werden musste, wo sie bereits um die Mittagszeit verstarb. In der Schillerstraße, direkt an der Bahnlinie, wohnte Pauline Pacyna im Haus Wiecorek. Das Haus, in dem sie wohnte, war durch die Detonation zerstört, es brannte ringsum. Sie konnte sich nicht mehr rechtzeitig aus dem Haus retten und starb in den Flammen. Zwei weitere Todesopfer waren zu beklagen. Der Landwirt Heinrich Peters aus Giften und sein jungverheirateter Sohn wurden auf der benachbarten Wiese des Unglücksortes beim Heumachen von Granaten zerfetzt. Die Pferde gingen durch und kamen mit dem Fuhrwerk und den beiden toten Landwirten darauf auf dem Bauernhof in Giften an. Im Haus Plaß in der Schillerstraße wird die Leiche des schon vorher verstorbenen und auch schon aufgebahrten Plaß sen. vom einstürzenden Gestein verschüttet und verbrennt im nachfolgenden Feuer. Im Haus Wesoly in der Schillerstraße wird eine schwangere Frau von den Trümmern getroffen und erliegt später ihren Verletzungen. Auch zahlreiche Verletzte gab es an diesem Tag. So verlor eine junge Frau in der Schillerstraße, nachdem sie das brennende Haus mit ihrem kleinen Sohn noch verlassen konnte, durch ein umherfliegendes Eisenstück ein Auge.
Fünf Jahre nach diesem schlimmen Unglück schreibt der Chronist: Die Explosion forderte insgesamt 33 Todesopfer, darunter Männer, Frauen, Kinder und ganze Familien. Sie wurden von den hochgehenden und berstenden Granaten so schrecklich zerfetzt und verstümmelt, dass die Bergung der Leichen nur unter den schwierigsten Umständen möglich war. Vier Leichen konnten nicht identifiziert werden. Die Verstorbenen wurden mit Pferdefuhrwerken zum evangelischen Friedhof gebracht und dort in der Leichenkapelle zur Identifizierung aufgebahrt, bevor sie dann in einem Massengrab beigesetzt wurden. Den Verstorbenen zum Gedächtnis wurde im Jahre 2005 am Bahnhof anlässlich des 60. Jahrestages eine Gedenktafel angebracht und am 16. Juni 2024 ein Gedenkstein. Doch das Unglück hätte ohne den Einsatz von drei mutigen Eisenbahnern unzählige weitere Todesopfer gefordert und Sarstedt wäre möglicherweise dem Erdboden gleichgemacht worden, wenn nicht quasi in letzter Sekunde verhindert worden wäre, dass 99 mit Luftminen beladene Waggons in die Luft fliegen. Seit Tagen schon standen die Waggons unbewacht zwischen dem Bahnübergang Giebelstieg und der Höhe Vosswerke. Die Besatzungsmacht hatte alle vorgefundenen Munitionsbestände auf Waggons verladen und bis zur endgültigen Vernichtung, die auf Helgoland erfolgen sollte, unter anderem auch hier abgestellt. Inmitten explodierender Infanteriemunition, umgeben von pfeifenden Granatsplittern und den Toten zwischen den verbogenen und aufgerissenen Gleiskörpern, behielten die Lokführer Karl Bornemann, der Eisenbahner August Knoke und der Heizer Hermann Schwerdtfeger die Übersicht. Karl Bornemann und Hermann Schwerdtfeger erkannten schnell die Situation und führten ihre Lok über eine Weiche auf das Kaligleis direkt vor den Munitionszug und wollten die gefährliche Fracht aus der Stadt ziehen. Unter größter Lebensgefahr rennt August Knoke an der langen Reihe der Munitionswaggons entlang. Obwohl der Bahnhofsvorsteher sein Vorhaben abgelehnt hatte, begibt er sich in den Gefahrenbereich. Es gelingt ihm, 16 Waggons abzukuppeln. Unterwegs wird Knoke vom Luftdruck einer weiteren Explosion mehrere Meter durch die Luft geschleudert und bleibt für Sekunden benommen liegen. Dann rennt er zurück und springt in den Führerstand. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung und konnte so aus dem Gefahrenbereich herausfahren bis zu einem unbenutzten Gleis bei der Rethener Zuckerfabrik. Wenig später fuhr die Lok abermals in den Gefahrenbereich, um neunzehn vom Feuer bedrohte Treibstoff-Kesselwagen herauszuholen.
In Anerkennung für ihren entschlossenen Einsatz und für ihr mutiges Handeln wurde der Bahnhofs-Vorplatz im Jahre 1990 nach August Knoke benannt und Hermann Schwerdtfeger wurde am 12. Dezember 1989 das Ehrenbürgerrecht der Stadt Sarstedt verliehen. Karl Bornemann verstarb 1963 und hat eine Würdigung durch die Stadt in dieser Form nicht mehr bekommen. Über die Ursache der Explosion besteht bis heute keine Klarheit darüber , was diese ausgelöst hat. Zeitzeugen haben zur Unglückszeit Menschen über ein Feld weglaufen sehen, andere berichten wieder von einer gefundenen Zündrolle, von gestohlenen Säcken mit Schwarzpulver, wobei viel auf den Gleisen verstreut war und in dem Moment, als der Zug kam, durch den Funkenflug die Explosion ausgelöst wurde.

